Bitterstoffe triggern körpereigene Schutzmechanismen

„Gute Medizin schmeckt immer bitter und bitteres Gemüse ist gesund!“ Mit diesen Volksweisheiten werden seit Generationen Kinder konfrontiert, wenn sie sich gegen das Herunterschlucken von bitterer Medizin und bitterem Gemüse wehren und damit auf ihre „innere Stimme“ hören. Den Tieren geht ähnlich. Viele Hunde lassen sich nur schwer oder gar nicht von ihren Menschen zur Aufnahme bitterer Pflanzen bewegen. Besonders Katzen wehren sich vehement und beginnen zu speicheln, denn…

Bitter warnt vor Giftigkeit

Tatsächlich sind bittere Pflanzen potentiell giftig. Ihre Bitterstoffe dienen als Fraßschutz und warnen Tiere vor möglichen Vergiftungen. In der Tiermedizin werden Bitterstoffe äußerlich gegen Belecken und Beknabbern von Wunden und Verbänden sowie gegen Kannibalismus in der Massentierhaltung eingesetzt (Schwanzbeißen, Kloaken- und Federpicken etc.). Medizinisch verwendet werden sie selten. Schade, denn…

Bitter wirkt heilsam

Das lehrt die Erfahrung. In der Ayurvedischen Medizin und der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) werden seit 5000 Jahren bittere Pflanzen zur Anregung der Verdauung und Unterstützung des Fettstoffwechsels, bei Leberschwäche, Darmträgheit und zur Tonisierung und Revitalisierung bei Mensch und Tier eingesetzt. Seit über 2000 Jahren finden sich auch in der westlichen Heilkunde Belege für diese Indikationen. Bitterstoffdrogen waren Hauptbestandteile von sogenannten Lebenselixieren wie dem griechischen Theriak, den es auch als „Viehtheriak“ gab, ebenso im bis heute in verschiedenen Kompositionen gebräuchlichen Schwedenbitter aus dem 17. JH. Im 20. Jahrhundert hat die medizinische Bedeutung von Bitterstoffdrogen stetig abgenommen. In der Hochschulmedizin spielen sie kaum noch eine Rolle, weder bei Menschen, noch bei Tieren. Aus Obst- und Gemüsesorten wurden sie weitgehend eliminiert. Genutzt werden sie noch in Aperitifs. Dass die Geringschätzung der Bitterstoffe als Bestandteil von Nahrungs- und Heilmitteln vermutlich ein Fehler ist, soll dieser Artikel zeigen.

Die Chemie der Bitterstoffe und der Bitterwert

Bitterstoffe sind chemisch sehr verschieden. Zu ihnen gehört das zentral stimulierende Koffein aus Kaffeesamen und Teeblättern, das bakteriostatisch wirkende Humulon aus den Hopfenblüten, das schmerz- und fiebersenkende Chinin aus der Chinarinde - ein wichtiges Arzneimittel zur Prophylaxe und Therapie der Malaria - und noch viele weitere bittere Kompositionen der Natur. Zurzeit gibt es in der westlichen Volks- und Erfahrungsheilkunde ca. 250 bitterschmeckende, für zahlreiche Indikationen genutzte Pflanzen, die sowohl nach der chemischen Struktur ihrer Bitterstoffe, als auch nach ihrem Bitterwert beurteilt werden können.

Der Bitterwert ist in der Pharmazie eine Maßeinheit für Bitterkeit. Die Bestimmung des Bitterwertes geschieht organoleptisch durch Verdünnungsreihen: Ein Bitterwert von 1.000 entspricht einer Lösung von einem Teil des Stoffes auf 1.000 Teile Wasser, die gerade noch bitter schmeckt.

Bitterstoffdrogen und ihre Bitterwerte (Beispiele):

  • Enzianwurzel 10.000 - 30.000
  • Amarogentin aus Enzian 58.000.000
  • Wermutkraut 10.000 - 25.000
  • Artischockenblätter ca. 11.500
  • Tausendgüldenkraut 2.000 - 10.000

„Indikationslyrik“?

In der auf Erfahrungen beruhenden Medizin werden Bitterstoffdrogen vor allem bei Magen-Darm- und Atemwegsproblemen, bei Hautproblemen, Infektanfälligkeit und in der Rekonvaleszenz eingesetzt. Die Rezeptorforschung der letzten Jahrzehnte konnte mittlerweile wissenschaftliche Grundlagen für den erfolgreichen Einsatz von Bitterstoffen in diversen Bereichen zeigen und den Vorwurf der Indikationslyrik in Bezug auf die breite Anwendung von Bitterstoffdrogen widerlegen (Lu et al., 2017). Nichts desto trotz ist die pseudowissenschaftliche Anpreisung diverser Bitterstoffdrogen als Allheilmittel in den Medien kritisch zu betrachten.

Der Organismus braucht Bitterstoffe, damit Schutzfunktionen getriggert werden können."

Dr. Cäcilia Brendieck-Worm, Niederkirchen

Gustducin – ein wichtiges Signalmolekül

1992 wurde in den Geschmacksknospen der Zunge das Gustducin entdeckt, ein G-Protein-gekoppeltes Signalmolekül, das die Geschmackswahrnehmung für süß, umami und bitter vermittelt (McLaughlin et al.). Mithilfe des Gustducin wurden in der Folgezeit Bitterstoffrezeptoren in zahlreichen tierischen Geweben entdeckt.

Bitterstoffrezeptoren auf der Spur

Die ersten Bitterstoffrezeptoren wurden im Jahr 2000 in der Zunge entdeckt. 2002 fand man auch im Magen und im Duodenum Bitterstoffrezeptoren. 2003 konnten sie in der Nasenhöhle nachgewiesen werden. 2010 wurden sie in Bronchien und Lunge entdeckt, 2011 ebenso in der Trachea. 2013 fand man sie im Herzmuskel und in den Hoden. Es folgte 2014 ihre Entdeckung in Urethra und Nieren und 2015 in den Keratinozyten der Haut und in der Schilddrüse, sowie auf Leukozyten und auf Spermien (2020). 2021 konnte man sie in den Nebenhoden nachweisen. 2020 gelang der Nachweis der Bitterstoffrezeptoren in der glatten Muskulatur der Aorta. Das ist nur ein Teil der Forschungserfolge der letzten Jahrzehnte. (Chandrashekar et al., 2000; Wu et al., 2002; Finger et al., 2003; Deshpande et al., 2010; Krasteva et al., 2011; Foster et al., 2013; Xu et al.,2013; Deckmann et al., 2014; Rajkumar et al., 2014; Wölfle et al.2015; Clark et al., 2015; Malki et al., 2015; Governini et al., 2020; Dorscht 2021; Liu et al., 2020).

Funktionen der Bitterstoffrezeptoren

Die Bedeutung von Bitterstoffrezeptoren an der Zunge leuchtet ein: Bitterstoffrezeptoren schützen hier vor dem Abschlucken potentiell toxischer bitterer Nahrungsbestandteile. Doch was machen sie in den Geweben des Atmungstraktes, im Urogenitaltrakt und wo auch immer sie entdeckt wurden? Wenn auch längst nicht alles geklärt ist, so ist schon jetzt erkennbar: Bitterstoffrezeptoren gehören zu einem hochkomplexen und effektiven Selbstschutz- und Selbstheilungssystem des tierischen Organismus. Dazu folgen hier einige Forschungsergebnisse.

Bitterstoffrezeptoren in der Nasenhöhle

Die Exprimierung des Bitterstoffrezeptors T2R38 wird aktiviert durch bittere „Quorum-sensing-Moleküle“, wie sie Pseudomonas aeruginosa und andere gramnegative Bakterien produzieren und durch die das Signal zur Biofilmbildung gegeben wird. Biofilm schützt Bakterien vor der Immunabwehr und vor Antibiotika und spielt eine Schlüsselrolle bei chronischen Infektionen und Antibiotika-Resistenzen. Wird der Bitterstoffrezeptor aktiviert, führt dies u.a. zur Stickstoffmonoxid (NO)-Produktion. NO wirkt blutgefäßerweiternd, stimuliert die mukoziliäre Clearance und hat als reaktive Stickstoffspezies in der unspezifischen Immunabwehr direkte antibakterielle Effekte. Empfänglichkeit, Schwere und Verlauf von chronischer Rhinosinusitis, sowie pathogene Biofilmbildung bei Rhinosinusitis-Patienten korrelieren negativ mit der Fähigkeit den Rezeptor T2R38 zu exprimieren (Lu et al. 2017).

Bitterstoffrezeptoren in Trachea, Bronchien und Lungengewebe

Die Aktivierung der Bitterstoffrezeptoren führt im Bereich der Lunge zu verstärkter Sekretion eines dünnflüssigen Sekretes und zur Aktivierung der Zilientätigkeit und verbessert so die mukoziliäre Clearance (Shah et al., 2009; Hollenhorst et al., 2020). Außerdem kommt es zur Bronchospasmolyse (Deshpande et al., 2010).

Es lohnt sich, Bitterstoffdrogen und ihre Anwendungsgebiete genauer zu betrachten, sowohl bei funktionellen Problemen als auch bei infektiösem Geschehen. Zumindest Ergänzungsfuttermittel stehen in vielfältiger Zusammenstellung zur Anwendung in der Tiermedizin zur Verfügung."

Dr. Cäcilia Brendieck-Worm, Niederkirchen

Bitterstoffrezeptoren im Urogenitaltrakt

Im Urogenitaltrakt bieten Bitterstoffrezeptoren Schutz vor aufsteigenden Infektionen. Bittere Stoffwechselprodukte und „Quorum-sensing-Moleküle“ von Bakterien und Bakterienbestandteile gramnegativer Bakterien, wie z.B. von E. Coli oder Pseudomonas aeruginosa lösen reflektorische Kontraktionen aus, so dass pathogene Erreger zielgerichtet abtransportiert und ausgeschieden werden können (Doscht, 2021).

Bitterstoffrezeptoren auf Immunzellen

Das zelluläre Immunsystem reagiert mit Hilfe von Chemosensoren wie Bitterstoffrezeptoren auf mit der Nahrung zugeführte Fremdstoffe – auch wenn diese bereits aus dem Darm ins Blutgefäßsystem gelangt sind (Malki et al., 2015).

Bitterstoffrezeptoren im Darm

Die Signalkaskade von Bitterstoffen im Darm ist vermutlich am längsten bekannt. Bitterstoffe werden in der traditionellen Medizin häufig bei Appetitmangel und zur Verdauungsförderung genutzt. Oral aufgenommene Bitterstoffe lösen eine kaskadenförmige Ausschüttung aller Verdauungssäfte aus. Unter anderem führen Bitterstoffe zur Freisetzung des Hormons Cholecystokinin, dem „Gallenblasenbeweger“, der Gallenblase und Pankreas anspricht: die Produktion der Pankreasfermente wird angeregt und gleichzeitig durch Kontraktion der Gallenblasenwand und Erschlaffung des Gallenblasensphinkters der Gallefluss forciert (Cholerese). Zudem wird die Magen-Darm-Peristaltik, speziell die Magenentleerung angeregt. Cholecystokinin hat außerdem zentralnervöse Wirkung als Neurotransmitter und vermittelt u.a. das Sättigungsgefühl.

Bitterstoffrezeptoren therapeutisch nutzen

Jede Tierart entwickelt im Laufe ihrer Evolution Strategien zum Schutz vor Pathogenen. Bitterstoffe – ob pflanzlichen oder bakteriellen Ursprungs gehören zu diesen Pathogenen und haben zur Entstehung der hier aufgeführten, hochkomplexen Schutzmechanismen geführt. Der Organismus braucht Bitterstoffe, damit diese Schutzfunktionen getriggert werden können. Vermutlich bieten pflanzliche Bitterstoffdrogen überall dort, wo Bitterstoffrezeptoren vorkommen, Möglichkeiten, therapeutisch einzugreifen. Viele Praktiken der Volks- und Erfahrungsheilkunde beruhen auf der Anwendung von Bitterstoffen.

Gute Therapie-Erfahrungen gibt es z.B. bei Funktioneller Dyspepsie, einem Syndrom mit motorischen und sekretorischen Störungen aufgrund psychosomatischer Ursachen, bei dem es zur Atonie der glatten Muskulatur des Darmes kommt, infolgedessen zu unregelmäßigem Kotabsatz und Obstipation, Meteorismus und Flatulenz, Verdauungsschwäche durch Minderleistung aller sekretorischen Drüsen (Speicheldrüsen, Drüsen v. Magen- u. Darmschleimhaut, Leber und Pankreas), Cholestase mit Gries- und Steinbildung in der Gallenblase, Störungen in der Darmflora, wodurch Stoffwechsel und Entgiftung beeinträchtigt und fakultativ pathogene Erreger begünstigt werden, sowie zu Adipositas.

In diesem komplexen Gemenge bewähren sich seit Jahrhunderten pflanzliche „Cholagoga“, die alle zu den Bitterstoffdrogen gehören: Artischocke, Bockshornklee, Isländisch Moos, Löwenzahn, Mariendistel, Schafgarbe, Wegwarte, Wermut und viele andere (Brendieck-Worm & Melzig, 2021).

Take Home Message

Es lohnt sich, Bitterstoffdrogen und ihre Anwendungsgebiete genauer zu betrachten, sowohl bei funktionellen Problemen als auch bei infektiösem Geschehen. Zumindest Ergänzungsfuttermittel stehen in vielfältiger Zusammenstellung zur Anwendung in der Tiermedizin zur Verfügung.

Literatur

  1. Lu P, Zhang CH, Lifshitz LM, ZhuGe R (2017): Extraoral bitter taste receptors in health and disease. Review. J Gen Physiol; 149 (2): 181-197
  2. McLaughlin SK, McKinnon PJ, Margolskee RF (1992): Gustducin is a taste-cell-specific G protein closely related to the transducins. Nature. 357:563–569. 10.1038/357563a0
  3. Chandrashekar J, Mueller KL, Hoon MA, Adler E et al. (2000): T2Rs function as bitter taste receptors. Cell. 100:703–71
  4. Wu SV, Rozengurt N, Yang M etal. (2002): Expression of bitter taste receptors of the T2R family in the gastrointestinal tract and enteroendocrine STC-1 cells. Proc. Natl. Acad. Sci. USA. 99:2392–2397
  5. Finger TE, Böttger B, Hansen A et al. (2003): Solitary chemoreceptor cells in the nasal cavity serve as sentinels of respiration. Proc. Natl. Acad. Sci. USA. 100:8981–8986
  6. Deshpande DA et al. (2010): Bitter taste receptors on airway smooth muscle bronchodilate by localized calcium signaling and reverse obstruction. Nat Med. Nov;16(11):1299-304
  7. Krasteva G, Canning BJ, Hartmann P, Veres TZ, Papadakis T et al. (2011): Cholinergic chemosensory cells in the trachea regulate breathing. Proc Natl Acad Sci 108(23):9478-83.
  8. 8. Foster SR, Porrello ER, Purdue B, Chan HW, Voigt A et al. (2013). Expression, regulation and putative nutrient-sensing function of taste GPCRs in the heart. PLoS One. 8 10.1371/journal.pone.0064579
  9. Xu J, Cao J, Iguchi N, Riethmacher D, Huang L. (2013). Functional characterization of bitter-taste receptors expressed in mammalian testis. Mol Hum Reprod 19(1):17-28
  10. 10. Deckmann K, Filipski K, Krasteva-Christ G et al. (2014). Bitter triggers acetylcholine release from polymodal urethral chemosensory cells and bladder reflexes. Proc. Natl. Acad. Sci. USA. 111:8287–8292.
  11. Rajkumar P, Aisenberg WH, Acres OW et al. (2014). Identification and characterization of novel renal sensory receptors. PLoS One.9
  12. Wölfle U, FA Elsholz, Kersten A et al. (2015): Expression and functional activity of the bitter taste receptors TAS2R1 and TAS2R38 in human keratinocytes. Skin Pharmacol. Physiol. 28:137–146
  13. 13. Clark AA, Dotson CD, Elson AE, Voigt A et al (2015). TAS2R bitter taste receptors regulate thyroid function. FASEB J. 29:164–172. 10.1096/fj.14-262246
  14. Malki A, Fiedler J, Fricke K, Ballweg I et al. (2015). Class I odorant receptors, TAS1R and TAS2R taste receptors, are markers for subpopulations of circulating leukocytes. J. Leukoc. Biol. 97:533–545. 10.1189/jlb.2A0714-331RR
  15. Governini L, Semplici B, Pavone V, Crifasi L, Marrocco C et al. (2020) Expression of Taste Receptor 2 Subtypes in Human Testis and Sperm. J Clin Med. 18;9(1). pii: E264.
  16. Dorscht, L (2021). Non-neuronale cholinerge chemosensorische Zellen im Nebenhodenepithel. Diss. Gießen 2021
  17. Liu M, Qian W, Subramaniyam S, Liu S, Xin W (2020). Denatonium enhanced the tone of denuded rat aorta via bitter taste receptor and phosphodiesterase activation. European Journal of Pharmacology, 872, 172951.
  18. Shah AS, Ben-Shahar Y, Moninger TO, Kline JN, Welsh MJ (2009): Motile cilia of human airway epithelia are chemosensory. Science. 325:1131–1134. 10.1126/science.1173869
  19. Hollenhorst MI, Jurastow I, Nandigama R, Appenzeller S et al. (2020) Tracheal brush cells release acetylcholine in response to bitter tastants for paracrine and autocrine signaling FASEB J.;34(1):316-332
  20. Brendieck-Worm C, Melzig MF (2021): Phytotherapie in der Tiermedizin. 2. Aufl., Thieme Verlag Stuttgart, New York