Psychische Auswirkungen von Schmerzen nicht unterschätzen!

Schmerzen zu behandeln, ist eine der wichtigsten Aufgaben von TierärztInnen, und in den letzten Jahren hat das multimodale Schmerzmanagement zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Unter dem Begriff der multimodalen Schmerztherapie versteht man die Reduktion von Schmerzen durch Kombination verschiedener Therapieverfahren und/oder verschiedener Analgetika1. Neben der Applikation von Analgetika werden hierbei verschiedenste Methoden integriert. Dazu gehört die ursächliche Bekämpfung der Schmerzen (z. B: Operation), schonende Lagerung während Operationen und die Physikalische Medizin. Zunehmend an Bedeutung gewinnt in diesem Ansatz auch die Einbeziehung der psychischen Auswirkungen von Schmerzen auf den Patienten. Es ist allgemein bekannt, dass Schmerz als Stressor wirkt und verschiedenste Verhaltensänderungen verursachen kann – dazu zählt beispielsweise Aggression.

Die häufigsten Emotionen, die einer aggressiven Reaktion zugrunde liegen, sind

- Furcht (in Situationen, in denen sich das Tier nicht von einer wahrgenommenen Bedrohung entfernen kann oder will),

- Frustration (einschließlich derjenigen, die durch ein wahrgenommenes Eindringen in den persönlichen Freiraum oder den Verlust der Autonomie hervorgerufen wird),

- Angst vor Schmerzen (d.h. Erwartungshaltung über das mögliche Eintreten von Schmerzen) oder

- in einigen Fällen eine Kombination von Emotionen.

- Darüber hinaus kann der Einsatz von aggressivem Verhalten je nach vorheriger Erfahrung auch eine stark erlernte Komponente haben.

Am Beispiel eines einjährigen Cocker Spaniels, dessen Krankengeschichte im Veterinary Record Case Reports2 publiziert wurde, lässt sich gut aufzeigen, welche Folgen Schmerzen haben können und wie sie therapiert werden können. Der Hund wurde auf Grund von gelegentlichen aggressiven Verhaltens (beißen, schnappen) gegenüber den Besitzern und anderen vertrauten Personen vorgestellt. Dieses Verhalten wurde in verschiedensten Situationen, wie beim Streicheln, der Pflege, bei intensivem Spiel, Manipulation beim Transport und Entfernen des Brustgeschirrs gezeigt. Laut den Besitzern hat sich der Hund jedoch nicht immer aggressiv verhalten, vielmehr wurde sein Verhalten von den Besitzern als unberechenbar eingeschätzt und von denBesitzern als "Jekyll und Hyde" bezeichnet.

Gut zu wissen:

Dieses "Jekyll und Hyde"-Verhalten wurde in einer Studie untersucht – hier konnte gezeigt werden, dass es im Vergleich zu einer Kontrollgruppe häufiger in Fällen mit gleichzeitigen schmerzhaften Zuständen vorkommt.3

Der hier vorgestellte Cocker Spaniel konnte durch die richtige konservative medizinische Therapie und ein verhaltensmedizinisches Management- und Verhaltensmodifikationsprogramm erfolgreich behandelt werden."

Dr. Nadja Affenzeller, Vetmeduni Wien

Anamnestisch wurde von einer Abszessentfernung im Unterkiefer im Alter von sechs bis sieben Monaten berichtet. Der Abszess wurde chirurgisch entfernt und mit Antibiotika und einem nicht-steroidalen Antiphlogistikum nachbehandelt. Klinisch auffällig war ein Bunny-Hopping, eine schmerzhafte Hüftextension und ein palpatorisch schmerzhafter lumbo-sakraler Übergang.

Gut zu wissen

Die Beurteilung von Schmerzen bei einem Verhaltenspatienten stellt oft eine Herausforderung dar, da viele Hunde nicht vollständig untersuchbar sind (sowohl offensives Abwehrverhalten als auch Versteifen und Erstarren). Klinisch darstellbare Abweichungen sind oftmals subtil (erhöhte Körperspannung, Umdrehen des Kopfes, Vermeidung weiterer körperlicher Untersuchungen) oder können nur bei entspannten Hunden beobachtet werden (z.B. Bewegungsstörungen). Daher müssen sich die behandelnden Tierärzte oft in erweitertem Ausmaß an der Anamnese orientieren.

Auch wenn in diesem Fall eindeutig, muss bedacht werden, dass das Fehlen von röntgenologischen Veränderungen oder das Vorhandensein von nur leichten röntgenologischen Veränderungen nicht mit der Abwesenheit von Schmerzen gleichzusetzen ist!

Auf Grund der, wie beschrieben, oftmals schwierigen Diagnostik, kann die Erprobung von Analgetika aus verschiedenen Arzneimittelkategorien über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen, idealerweise in Kombination mit dem Ausfüllen validierter Schmerzfragebögen durch die Besitzer in manchen Fällen sinnvoll sein. Mit Hilfe einer symptomatischen Schmerztherapie können Schmerzen und deren Auswirkungen als Ursache für Verhaltensänderungen herangezogen werden.

Die erste Aufgabe eines Verhaltensmediziners besteht darin, die dem Verhalten zugrundeliegende Emotion und Motivation zu bestimmen, und eine Risikobewertung des Problemverhaltens vorzunehmen. Erst dann können Management- und Behandlungsoptionen (in der Regel einschließlich eines Verhaltensmodifikationsplans) umgesetzt werden.

Auf Grund der Ergebnisse der Untersuchung wurden Röntgenaufnahmen der Hüften und der Lendenwirbelsäule angefertigt. Es ergab sich der Verdacht auf eine geringgradige Hüftgelenksdysplasie, weiters zeigte sich auch eine röntgendichte Läsion im Bereich L7-S1. Zunächst wurde wiederum ein nicht-steroidales Antiphlogistikum verschrieben und der Hund zur weiteren Abklärung der Läsion L7-S1 zum CT überwiesen. Diese ergab eine ausgeprägte ventrale Spondylose von L7-S1 mit hypoattenuierenden Läsionen, die auf eine Disko-Spondylitis hindeutete. Diese war wahrscheinlich durch eine hämatogene Ausbreitung ausgehend vom Unterkieferabszess entstanden. Blut- und Urinkulturen waren negativ.

Achtung
: Dem Hund wurden daraufhin eine sechswöchige Antibiotika-Kur (Clindamycin 10mg/kg zweimal täglich) verschrieben und die Behandlung mit Carprofen (2mg/kg zweimal täglich) und Bewegungseinschränkung ergänzt.

Gut zu wissen

Aus verhaltensmedizinischer Sicht wurde den Besitzern als erste Maßnahme angeraten die Körpersprache des Hundes auf subtile Anzeichen einer bevorstehenden aggressiven Reaktion zu beobachten ("die hündische Aggressionsleiter"), um aggressionsauslösenden Situationen vorzubeugen. Ebenfalls wurde angeraten, wenn möglich Situationen zu vermeiden, die in der Vergangenheit eine aggressive Reaktion ausgelöst haben, und mit einem Maulkorb-Training zu beginnen. Der Hund zeigte unter der Antibiose und Schmerztherapie keine weiteren aggressiven Verhaltenserscheinungen. Nach Absetzen der Therapie fiel jedoch auf, dass der Hund nicht mehr aufstand um die Besitzer zu begrüßen, was als Rückkehr der Schmerzen interpretiert wurde. Daraufhin wurde Behandlung sowohl mit Clindamycin als auch mit Carprofen um einen Monat verlängert. Drei Wochen nach Absetzen aller Medikamente war die orthopädische Untersuchung unauffällig und die Bewegung des Hundes wurde allmählich auf ein normales Niveau gesteigert. Dies führte allerdings wieder zu einem Vorfall mit aggressivem Verhalten beim Streicheln durch die Besitzerin. Man entschied sich daher, nur ein moderates Bewegungsausmaß beizubehalten und die Carprofen-Therapie langfristig durchzuführen.

Als Therapieergänzung wurde ein Verhaltensmodifikationsprogramm gestartet. Dies ist notwendig um der erlernten Komponente der Schmerzantizipation entgegenzuwirken. Manipulationen und Handhabungen als auch Pflegemaßnahmen am Hund, welche zuvor Schmerzen verursacht haben, müssen wieder mit etwas Positivem verknüpft werden. Daher ist es notwendig alle Situationen, welche zuvor aggressives Verhalten gegenüber dem Besitzer ausgelöst haben z.B. mit besonders schmackhaftem Futter („Leckerchen“) zu verknüpfen. Wichtig ist hierbei mit kurzen und nur sehr langsam an Intensität zunehmenden Teilaspekten zu arbeiten. So kann z.B. wie in diesem Fall, der Hund für die Dauer des Trainings ein Halsband tragen um das täglich An- und Ausziehen des Brustgeschirres bzw. das Ziehen am Brustgeschirr während eines Spazierganges zunächst zu vermeiden. Somit kann dann gezielt am Anlegen und Ablegen des Brustgeschirres gearbeitet werden. Dabei wird zunächst das Brustgeschirr selbst positiv konditioniert- das Erblicken des Brustgeschirrs wird verknüpft mit dem Geben eines Leckerchen. Mit mehreren Wiederholungen beginnt sich der Hund bei Sicht des Brustgeschirrs zu freuen (in Erwartung eines Leckerchen). Anschließend wird das Annähern des Brustgeschirrs positiv verknüpft, gefolgt von dem Anlegen bzw. Hineinsteigen. Auch die ersten Spaziergänge erfolgen mit angelegtem Brustgeschirr, die Leine jedoch bleibt noch am Halsband befestigt. Wichtig ist hier die Geschwindigkeit und Intensität an die gezeigten Körpersignale des Hundes anzupassen- jegliches Zeigen von Meideverhalten (z.B. Weggehen, Kopf wegdrehen, Weglehnen) aber auch Versteifen, Anstarren oder Knurren müssen als Überforderung interpretiert und der Trainingsplan dementsprechend angepasst werden. Als Sicherheitsmaßnahme kann das Anlegen und Tragen des bereits zuvor ebenfalls mit positiver Verknüpfung erlernten Maulkorbes genutzt werden. Solche ein strukturierter Trainingsaufbau ermöglicht dem Hund dann das Anlegen von und Spaziergehen mit einem Brustgeschirr wieder als freudiges Ereignis wahrzunehmen zu können.

Gut zu wissen

Die erste Aufgabe eines Verhaltensmediziners besteht darin, die dem Verhalten zugrundeliegende Emotion und Motivation zu bestimmen, und eine Risikobewertung des Problemverhaltens vorzunehmen. Erst dann können Management- und Behandlungsoptionen (in der Regel einschließlich eines Verhaltensmodifikationsplans) umgesetzt werden.

FAZIT

Der hier vorgestellte Cocker Spaniel konnte durch die richtige konservative medizinische Therapie und ein verhaltensmedizinisches Management- und Verhaltensmodifikationsprogramm erfolgreich behandelt werden. Es muss aber bedacht werden, dass häufig auch Patienten mit chronischen Schmerzen vorgestellt werden, bei denen eine originäre Therapie nicht möglich ist (z. B. Osteoarthrosen) und auch mittels Schmerztherapie nicht immer eine vollständige Schmerzfreiheit erreicht werden kann. In diesen Fällen kann der zusätzliche Einsatz von Medikamenten, welche im Bereich der Emotionen Furcht/Angst und Frustration helfen, erwogen werden. Auch in der Tiermedizin ist ein interdisziplinärer Ansatz bei komplexen Fällen notwendig: das Zusammenarbeiten von verschiedenen Disziplinen wie Physiotherapie, angewandte Schmerztherapie und Verhaltensmedizin können gemeinsam, helfen um die Lebensqualität des Patienten zu steigern.

1 Tacke, S: Schmerz in Bockstahler et al. Physikalische Medizin, Rehabilitation und Sportmedizin auf den Punkt gebracht, VBS VetVerlag, Buchhandel und Seminar GmbH; Auflage: 1 (1. April 2019)

2 Affenzeller N: Human-directed aggressive behaviour as the main presenting sign in dogs subsequently diagnosed with diskospondylitis. Vet Rec Case Rep 2017;5:e000501. doi:10.1136/vetreccr-2017-000501

3 Barcelos AM, Mills DS, Zulch H. Clinical indicators of occult musculoskeletal pain in aggressive dogs. Vet Rec 2015;176:465