Virtual Teams for future?


“Führen aus der Ferne!” - so lautete mal ein Seminarthema. Es war in den Nullerjahren. Die Hörer:innen sollten sich der Tatsache widmen, dass eben nicht nur Pilot:innen, Kapitän:innen, Lokomotivführer:innen, Verkehrspolizist:innen oder seriöse Briefträger:innen ihren täglichen Dienst ganz ohne persönliche Leitung der Vorgesetzten ableisten. Psycholog:innen halten den Exodus ins Home
office nicht für der Weisheit letzter Schluss. Haben wir zu viele Chef:innen in den Betriebsebenen? Ist die Leitungsdichte überlastig? Das bringt so manche Berater:in und sogar akademische Wirtschaftswissenschaftler:in auf den strategischen Einfall, tunlichst jeweils zwei Gruppen im Betrieb zu verschmelzen und damit (Synergieeffekt!?) zumindest jede zweite Leitungsposition zu streichen.

Leistung braucht Leitung

Ab der zweiten Leitungsebene abwärts addiert sich so eine Volte zu einer wohltuenden Ertragssteigerung – leider nur im ersten Jahr. 
 
Später geht der Vorteil scheibchenweise wieder verloren, wenn es mit der Leistung samt Qualität kraftlos talwärts geht. An dem alten Meisterspruch ist wirklich was „dran“: Leistung braucht Leitung. Der Negativtrend der Doppelgruppen hält unerbittlich an, bis die allzu mutwillige Diät endlich beendet wird. Die nächste Berater:in aktiviert höchste Frustrationstoleranz und muss genügend „Zweite“ im Personalbestand aufspüren, die einen früheren „Chef“ ersetzen können - und das auch selber wollen. 

Erst der übernächste Nachfolgeberater 
- denn jede Dritte ist Expert:in für gute Leitungsspannen – würde die gerade demontierten Leiter:innen allzu gern wieder in Amt und Würden sehen, wenn es denn ohne Gesichtsverlust möglich wäre. Darum greift die Presseabteilung des eigenen Stalls mutig unter die Arme und verbreitet: „Lean Management ist überzeugender Trend im Kostenmanagement!“ Und schon steht auch ein FH-Professor für Kommunikation am Mikrofon, der seine Vision preisgibt: 
„Verzicht auf überpolsterte Leitungsebenen ist schon ab dem ersten Tag höchst rentabel: 
Information fließt direkter und unmittelbarer
an jeden Arbeitsplatz. Das macht Tempo.“

Naja. Die oft zu Unrecht geschmähte Volksweisheit weiß andererseits: „Himmlische Versprechen machen dunkle Schatten.“ Tatsächlich hört man in den Lobesreden auf das Lean Management viele falsche Töne. 
Denn Lean Manager gehören zur Familie der klassischen Infanterie, die aus den alten Söldnertruppen entstand. Damals kamen auf einen Kommandanten schon mal 60 bis zu 100 Mann. Deren Leitung ist auf die griffig ausgebildeten, streng trainierten Söldner angewiesen, die der Stimme ihres verehrten Feldherrrn vertrauen, dessen kurze Befehle jedenfalls satte Beute ‚am Ende des Tages‘ signalisieren. („Am Ende des Tages“ gehört darum nicht ganz zufällig zu den Lieblingsredensarten der Feldherrn-Darsteller).
 
Die strategische Bedeutung der früheren soldatischen Disziplin lag in der direkten 
und schnellen Ersetzbarkeit des Söldners. Darin liegt der größte Unterschied zum heutigen organisierten Beschäftigten. 
Im Betrieb nämlich ist nicht mit militärischer Ausbildung und Befehlstreue zu rechnen,
 aber auch nicht mit der Ausfallwahrscheinlichkeit an einer feindlichen Front.



Betriebliche Arbeit ist differenziert

Anders als das Anrennen gegen den Feind ist betriebliche Arbeit differenziert und daher komplizierter. Schon das bloße Vermitteln und Kontrollieren von Leistungsmustern ist mit 10, 20 oder noch mehr Beschäftigten aussichtslos. Das Leiten einer 12er-Gruppe würde bei Lean Management Bedingungen geradezu magische Kräfte benötigen, um die Qualität halten zu können. Leitung lässt sich nicht vereinfachen. 

Da ist die Forschung der experimentellen Psychologie dichter an der Wirklichkeit. Sie sucht nach den Wurzeln der Leitungsspanne, nach den Wahrnehmungsgrenzen der Leiter:innen. Bereits 1956 beschrieb George A. Miller diese Grenzen mit Plus/minus zwei von sieben Informationseinheiten, die im Kurzzeitgedächtnis jederzeit nachweisbar sind.

Das passt überraschend gut zu den Erfahrungswerten der Pyramidenbauer am Nil. Schon in vorchristlichen Zeiten planten und konstruierten sie ihre verwegene Hebe- und Schneidegerätschaft am häufigsten für eine 6er-Bedienung (1:5).

 Die Erkenntnis aus der Arbeitswelt ist als die „Millersche Zahl“ in WIKIPEDIA beschrieben und dokumentiert. Es sind also nicht etwa die Lohnkosten, die gebündelte Körperkraft der Gruppe oder die Incentives, die einer Leistungseinheit die Grenzen setzen. Es ist das direkte Bedürfnis jedes einzelnen Gruppenmitglieds nach glaubhafter förderlicher Leitung durch einen Menschen, dessen Wahrnehmungs- und Gedächtniskapazitäten nicht beliebig steigerbar sind. Nicht einmal durch ein erfolgreiches Studium der Tiermedizin.