Konstruktives Fehlermanagement in der Tiermedizin

Die Art, wie Menschen auf eine Situation reagieren, erschafft erst das Problem.

Wenn wir unseren Lieblingskollegen „Dr. Google“ konsultieren, spuckt er uns mehrere Definitionen von Fehlern aus: „Irrtümliche Entscheidung“, „Nicht-Erfüllung einer Aufgabe/Anforderung“ oder „eine Situation/Handlung, die nicht den gewünschten Output bringt“. Und solange es uns nicht selbst betrifft, trifft es uns nicht: Wenn jemandem aus unserem Umfeld ein „Fehler“ passiert ist, begegnen wir dem- bzw. derjenigen wohlwollend, ermutigend und mit aufmunternden Sätzen wie „Kopf hoch, sowas kann passieren“, „nobody‘s perfect“, oder wie wir in der Bundeshauptstadt von Österreich sagen: „Scheiss da nix!“ (wienerisch für „Wenn man sich keine Sorgen macht, dann passiert auch nichts.“). Aaaaaber wehe, wenn uns ein „Fehler“ passiert: Dann sieht die Welt ganz anders aus, die emotionalen Gewitterwolken ziehen sich über unseren Köpfen zu, ein Sturm fegt durch unsere Adern und der Schüttregen auf das schlechte Gewissen beginnt.

„Fehler machen“ geht immer mit Schuld & Scham einher

Jeder Mensch hat seine individuelle Strategie, wie er mit Fehlern umgeht. Das ist der sogenannte Fehlerkompensations-Mechanismus: Von „Komplette Abwesenheit der eigenen Reflexion“ bis hin zur „Betonung der eigenen Fehler und übermäßigem Schamgefühl“ sind in der breiten Bevölkerung alle Facetten vertreten. Die beste Strategie läge - wie so vieles im Leben - in der goldenen Mitte. Aber wieso tendieren so viele von uns Tierärzt:innen, bei einem „Fehler“ in ein kilometertiefes Loch aus Schuld, Scham & Selbstvorwürfen zu fallen?

Man sollte sein altes ICH nicht mit der Erfahrung be- oder verurteilen, die man heute hat. Es ist noch nie ein Meister vom Himmel gefallen.“

Mag. Elisabeth "Lisi" Baszler, Wien

Meine Arbeitshypothese lautet: Weil in unserem speziellen Fall mehrere ungünstige Faktoren aufeinandertreffen:

  • Der Glaubenssatz „In der Medizin wird prinzipiell eine Null-Fehler-Quote erwartet“ hält sich hartnäckig. Natürlich will jede von uns ihre Verantwortung gegenüber den Patienten zu jedem Zeitpunkt vollkommen gerecht werden - und das ist ja auch eine legitime, löbliche Grundhaltung und notwendig für die gewissenhafte Berufsausübung. Aber sind wir uns mal ehrlich: Wie realistisch ist diese Anspruchshaltung im wortwörtlichen „tierärztlichen Ordinations-/Klinik-Alltagswahnsinn“ verglichen mit einem Piloten, der vor jedem Flug in aller Ruhe seine Checkliste durchgeht und abhakt? Ich persönlich gehe immer vom Besten aus und ich denke ich kann behaupten, dass alle von uns täglich nach bestem Wissen und Gewissen arbeiten und 100 % für die Tiere und deren Besitzer:innen geben. Niemand von uns macht absichtlich bzw. vorsätzlich einen „Fehler“.

Ich zum Beispiel habe einen Haufen Fehler gemacht, als ich noch grün hinter den Ohren war und möchte einen Fehler aus meinen Anfangszeiten mit Euch teilen. Einfach um zu zeigen, dass die Welt nicht untergegangen ist und ich das Beste aus einer nicht idealen Ausgangslage rausgeholt habe: Ich habe einmal einem geblockten Kater ein NSAID gegeben - ich wusste es damals einfach nicht besser! Ich habe mich als Baby-Vet mit meinem damaligen Wissensstand nach bestem Wissen und Gewissen (leider) für die falsche Form der Analgesie entschieden – und natürlich von der Oberärztin eine Kopfwäsche bekommen, als sie am Abend meine Fälle supervidiert hatte. Auch wenn ich mich nach dem Impulsvortrag der Kollegin „Niere & NO GOs“ in Grund und Boden geschämt habe und es einige Zeit gebraucht hat, konnte ich mir Jahre später verzeihen.

Weil ich das Beste aus der Situation rausgeholt habe, indem ich ganz viel über Nieren-Physiologie, Schockpatienten, FLUTD, NSAIDs usw. gelesen habe und anschließend ein ordentliches Stück schlauer war als davor. Seitdem weiß ich, dass COX-1 & COX-2 auch in den Nieren von Säugetieren exprimiert werden und dort viele wichtige Aufgaben haben: Unter anderem sind sie zuständig für den Erhalt der Nierenfunktion während einer Hypovolämie – und daher sollte man sie von dieser Aufgabe nicht abhalten, wenn der Patient eh schon ein Perfusionsdefizit & eine Azotämie hat und ein Opioid als Analgetikum wählen.

„Man sollte sein altes Ich nicht mit der Erfahrung be- oder verurteilen, die man heute hat. Es ist noch nie ein Meister vom Himmel gefallen“

  • Viele von uns sind nicht nur für ein ungesundes Maß an Perfektionismus, sondern auch für das Impostor-Syndrom prädisponiert. In der allgemeinen gesellschaftlichen Wahrnehmung sollen wir vom Hamster bis über die Giraffe in über 30 Fachgebieten von „A“ wie Allergologie bis „Z“ wie Zahnheilkunde jedes Leitsymptom, jede noch so exotische Differentialdiagnose, jede Erkrankung, jede Therapieoption und am besten auch die Prognosen auf den Tag genau aus dem Stegreif aus dem Ärmel zaubern. Und das selbstverständlich ohne diese lästige Diagnostik dazwischen, weil „es warat wengam Gööd“ (wienerisch für: „Ich bin finanziell limitiert.“). Tja, wie reagiert man da angemessen? „Darf ich sonst noch etwas in meiner Glaskugel für Sie nachsehen? Die Lottozahlen für übernächste Woche?“ Und selbst, wenn man „eh nur“ Kleintiere macht: Der General Practitioner draußen bedient noch immer mehr als 20 Fachgebiete parallel: Es ist schlichtweg zeitlich nicht möglich, jede Woche konsequent alle Papers durchzuackern, die neu publiziert worden sind. Ganz abgesehen davon, dass wissenschaftliche Arbeit außerhalb der Universität nicht die Miete zahlt. In der Humanmedizin hingegen wird selbstverständlich akzeptiert und respektiert (!), dass man seiner Zahnärzt:in kein EKG unter die Nase reibt (oder sich gar eine kompetente Interpretation erwartet).
  • Der dritte Faktor, der meiner persönlichen Meinung nach viel zu wenig beachtet wird: Der subklinische, chronische innere Konflikt mit dem Thema Schuld. Neben den vielen tollen & großartigen Besitzer:innen, mit denen wir täglich arbeiten dürfen, begegnen wir in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen sog. „PITAs“. So nenne ich die „Pain In The Ass“- Besitzer:innen, die eben das perfektionieren, was ihr Name schon vermuten lässt, uns bewusst wie unbewusst konsequent mit Vorwürfen und Schuld beladen und uns die Energie wie das Blut aus den Adern saugen. Und praktischerweise müssen sie dazu nicht einmal bei uns in der Praxis stehen: Jedes Mal, wenn sich die PITAs digital auf Social Media hochgeistig über den Notdienst-Schwund beklagen und verzweifelt die „Tierärzt:innen mit Herz suchen, denen es nicht ums Geld sondern ums Tier geht“ und für die Leugnung der Eigenverantwortung für das eigene Haustier olympisches Gold gewinnen könnten, denn „ iCh hAbE ChLoE aUs DeR TöTuNg gerettet1!!1!1!!!1 Auch wenn uns das oft nicht klar ist: Unser Unbewusstes wird konsequent – on- & offline – mal offensichtlich, mal sehr subtil – exogen mit „Schuld“ gefüttert. Und diese negative Emotion kumuliert dann exponentiell in unseren Bäuchen, wenn wir uns nicht ausreichend abgrenzen können. Im worst case passiert uns obendrauf ein „Fehler“ oder es wird sogar versucht, auf perfide Art & Weise ein vermeidlicher Fehler seitens der Besitzer:innen auf uns abzuwälzen …

Ich hoffe, ich konnte mir diesen Worten dazu beitragen, dass sich auch Superheld:innen aktiv um ihr emotionales Wohlbefinden kümmern und sich abgrenzen dürfen, damit unser Beruf der bleibt, der er ist: Nämlich der Schönste auf der Welt."

Mag. Elisabeth "Lisi" Baszler, Wien

„Ein Fehler ist dazu da, dass alle möglichst viel draus lernen“

Die beste Strategie, konstruktiv an einen „Fehler“ heranzugehen, ist die Situation aus der 3. Perspektive zu betrachten. Und zwar neutral, objektiv, offen und neugierig. Es ist nämlich zu keiner Sekunde in irgendeiner Weise konstruktiv, in dieses bodenlose schwarze Loch der Schuldgefühle zu fallen! Besser ist es, sich aus der eigenen Situation hinauszubeamen und sich aus der Vogelperspektive zu fragen: Ist es überhaupt ein Fehler? Oder ist es ein “Fehler“? Und wenn es wirklich ein Fehler ist: Ist es MEIN Fehler? Oder will mir jemand anders sein Fehlverhalten unterjubeln? Wie geht es *Lisi* mit dieser Situation? Wie hat *Lisi* als Kind den Umgang mit Fehlern gelernt? Wie ist es zu dieser Situation gekommen? Was kann *Lisi* für die Zukunft lernen? Mir hat es zum Beispiel immer sehr geholfen, wenn ich mit einer Freundin bzw. erfahrenen Kollegin über diese Situationen gesprochen und reflektiert habe.

FEHLER HABEN IMMER WACHSTUMSPOTENTIAL

Natürlich könnte man sich darüber echauffieren, dass ein falsches Bild in einer Fachzeitschrift über Kleintiermedizin abgedruckt wurde. Oder man kann sich denken: Okay, die Sache ist nicht ideal gelaufen, das Ausmaß des Schadens war überschaubar und es ist vollste Einsicht da. Und wir können die Situation sogar noch weiter aufwerten: Wäre dieses Bild nicht abgedruckt worden, wären durch die Stellungnahme & die aufrichtige Entschuldigung des Herausgebers niemals so viele Menschen auf das Thema erst aufmerksam geworden – nämlich, dass Katzen mittels Scruffing aus ihrem Transporter herauszuzerren oder mit dem Nackengriff für die Blutentnahme zu fixieren, nichts mit zeitgemäßer Kleintiermedizin zu tun hat. Und erst durch dieses Bild entstand überhaupt die Idee, mehr Awareness für Anti-Scruffing zu schaffen, von einer großartigen Kollegin einen Artikel schreiben zu lassen und uns Platz einzuräumen und die Zeit zu nehmen, über eine positive Fehlerkultur in unserer Branche nachzudenken.

Take Home Messages

Wir wollen den schönsten Beruf der Welt langfristig mit Freude, Spaß und Leidenschaft ausüben. Daher ist es neben konstruktivem Fehlermanagement wichtig, regelmäßig abzuschalten und sich nicht nur ausreichend Freizeit, sondern sich echte Qualitätszeit bzw. „metime“ zu gönnen: Ob mit oder ohne Freund:innen, Spaziergänge mit unseren Hunden, Sport oder Lesen, Yoga & Meditation oder altmodische Hobbies wie Briefmarken sammeln oder Modellbau – erlaubt ist, was uns glücklich macht und uns nachhaltig erholt!

Weitere wichtige Tools sind die aktive Kund:innenhygiene & die bewusste Abgrenzung: Wir sind Tierärzt:innen – auch wenn ein professioneller und mitfühlender Umgang mit Besitzer:innen wichtig ist, werden wir niemals die gesamte Welt retten! Und das ist auch gar nicht unsere Aufgabe: Wir sind nicht die letztverantwortliche Instanz für das emotionale Wohlbefinden von Menschen, die sich aufgrund ihrer sozialen Inkompatibilität jenseits von Gut und Böse bewegen.

Und das gilt auch für Social Media: Du bist nicht nur, was Du isst – sondern auch, was Du konsumierst! Wer sich jeden Abend vor dem Einschlafen die hochgeistigen Diskussionen über Therapievorschläge & Kolleg:innen-Bashing von motivierten Hobby-Tierärzt:innen in der Facebook-Gruppe „Katzenkrankheiten“ durchliest oder sich über die FN ärgert und aktuelle Meldungen zum Stand der Petition stalked, wird sich automatisch schlechter von solchen Besitzer:innen abgrenzen können.

Erste-Hilfe-Kasten auf Vetivolution

Wie immer gilt: Sich Hilfe zu holen, ist ein Zeichen von Stärke! Auf www.vetivolution.de gibt es einen Erste-Hilfe-Kasten, der vollgepackt ist mit Übungen, Gedankenprozessen und kurzen Praktiken zu den Themen Stress im Klinikalltag, Abgrenzung, uvm.! Hier könnt Ihr Euch auch für kostenlose Supervisionen in Kleingruppen anmelden, die durch spezialisierte PsychotherapeutInnen geleitet werden.

Ich hoffe, ich konnte mir diesen Worten dazu beitragen, dass sich auch Superheld:innen aktiv um ihr emotionales Wohlbefinden kümmern und sich abgrenzen dürfen, damit unser Beruf der bleibt, der er ist: Nämlich der Schönste auf der Welt.