Blutegeltherapie – mehr als blutiger Hokuspokus?


Die Blutegeltherapie wird in der Humanmedizin seit Jahrhunderten angewendet und gewinnt auch in der tiermedizinischen Anwendung langsam aber stetig an Bedeutung. Der folgende Artikel soll einen Einblick in das Tier und das Arzneimittel Blutegel geben.

Biologie

Blutegel, die in der Human- und Tiermedizin eingesetzt werden, gehören in Deutschland fast ausschließlich der Spezies Hirudo verbana an. Sie verbringen den überwiegenden Teil ihres Lebens im Wasser, in dem sie sich schwimmend fortbewegen, können sich jedoch auch problemlos an Land aufhalten, solange sie nicht austrocken. Hier bewegen sie sich mit Hilfe ihrer Saugnäpfe am Vorder- und Hinterende fort. Blutegel verfügen über fünf Augenpaare (Ocellen) im Kopfbereich und auf dem gesamten Körper befinden sich Chemorezeptoren, Thermorezeptoren und Mechanorezpetoren. Die Sinnesorgane dienen der Beutefindung aber natürlich auch dem Selbstschutz der Tiere. Einmal pro Jahr legen die protandrischen Hermaphroditen Kokons mit Eiern ab, woraus nach ca. sechs Wochen kleine Egel schlüpfen.

Von (tier)medizinischem Interesse ist die Saliva der Blutegel, die in ca. 36.000 Speichelzellen gebildet wird. Von den Speichelzellen führen Ausführungskanäle zu den drei Kiefern, mit denen der vordere Saugnapf bestückt ist. Jeder Kiefer trägt rund 60 pyramidenförmig angespitzte Kalkzähnchen, zwischen denen jeweils ein Ausführungsgang der Speichelzellen mündet.

Saugakt

Beim Biss saugt sich der Blutegel mit seinem vorderen Saugnapf an der Haut fest, sägt mit den Zähnen seiner drei Kiefer eine oberflächliche Wunde in die Haut und verletzt dort die Gefäße. Der Biss selbst wird häufig als leichter, brennnesselartiger Schmerz wahrgenommen. Kurz darauf beginnt die Saliva in die Wunde zu fließen. Der Saugvorgang, der weitgehend schmerzfrei bleibt, dauert je nach Größe des Egels 20 – 60 Minuten. Danach fällt der Blutegel gesättigt ab und die Nachblutung der Wunde beginnt, die bis zu 24 Stunden andauern kann. Die Nachblutung ist eine gewünschte Arzneimittelwirkung und kann gegebenenfalls durch einen Schutzverband abgedeckt werden.

Speichelsubstanzen

Nach derzeitigen Kenntnisstand werden mit dem Biss und während des Saugvorgangs >100 Salivasubstanzen in die Wunde abgegeben, wovon nur ein Teil bisher charakterisiert werden konnte. Unter den Inhaltstoffen finden sich analgetische, antiinflammatorische, vasoaktive und koagulationshemmende sowie thrombozytenaggregationshemmende Stoffe.

Die Blutegeltherapie kann eine gute Ergänzung oder Alternative bei der Behandlung verschiedener, klar diagnostizierter Erkrankungen bieten."

Dr. Mirjam Lang, Biebertaler Blutegelzucht

Da der Saugakt des Blutegels relative lange dauert, währenddessen der Parasit nicht entdeckt und abgestreift werden möchte, ist die Zusammensetzung des Blutegelspeichels als Schutzmechanismus und Optimierung der Futteraufnahme zu begreifen. Glücklicherweise können die Inhaltstoffe der Saliva gleichzeitig für den Wirt nützlich sein.

Anwendungsgebiete in der Tiermedizin

Ein klassisches Anwendungsgebiet ist die Arthrose, hierbei kann die Blutegeltherapie ein wichtiger Baustein im Management betroffener Tiere sein, insbesondere wenn eine Unverträglickeit von klassischen NSAIDs besteht. Weitere Einsatzmöglichkeiten sind zum Beispiel: Myogelose, Bursitis, Tendinitis, Hämatom, Othämatom, Wundheilungsstörung, Serom und Ekzeme.

Dosierung

Die Anzahl und Größe der verwendeten Egel müssen an die Größe bzw. an das Gewicht des Patienten angepasst werden. Maßgeblich hierfür ist die Kenntnis über das Volumen des Blutverlustes, der mit der Therapie einher geht. Der Blutegel nimmt während der Futteraufnahme die 5-10 fache Menge Blut seines Körpergewichtes auf. Als Nachblutung muss die gleiche Menge an Blutverlust nochmals angenommen werden. Insbesondere bei der Blutungsdauer können große individuelle Unterschiede bestehen (Cave Windhundrassen), sodass bei einer Erstbehandlung nicht ausdosiert werden sollte.

Kontraindikationen

Zu den Kontraindikationen für eine Blutegeltherapie zählen zum Beispiel:

Anämien
Koagulopathien
Gleichzeitige Behandlung mit Antikoagulanzien und Thrombozytenaggregationshemmern
Magenulcera
Neoplasien (auch hämatologische)
Infektionskrankheiten
Fieber
Schwerwiegende Organerkrankungen
Schlechter Allgemeinzustand, Kachexien
Trächtigkeit

Immunsupprimierte Tiere: Vorsicht ist zudem bei Tieren geboten, die stark allergisch auf Insektenstiche reagieren.

Unerwünschte Arzneimittelwirkung

Wie bei den meisten wirksamen Arzneimitteln können auch bei und nach der Blutegeltherapie unerwünschte Arzneimittelwirkungen auftreten. Insgesamt werden diese beim Tier weitaus seltener beobachtet als beim Menschen. Gelegentlich werden bei Hunden Juckreiz, Rötung und Schwellung nach einer Blutegelbehandlung an den Bissstellen berichtet. In so einem Fall ist besonders darauf zu achten, dass der Patient die Bissstellen nicht bearbeitet, um eine sekundäre Kontamination mit Bakterien der Haut und der Maulhöhle zu vermeiden. Seltener treten Lymphknotenschwellungen, allergische Reaktionen und Phlegmone auf.

Rechtliche Aspekte

Bei (medizinischen) Blutegeln handelt es sich nach §2 Absatz 1 AMG um ein Arzneimittel und sie fallen nach §4 Absatz 1 AMG unter den Begriff des Fertigarzneimittels. Blutegel sind als apothekenpflichtiges aber nicht rezeptpflichtiges Humanarzneimittel eingeordnet. Durch die Umwidmung nach §56a AMG ist eine Anwendung am Tier durch den Tierarzt möglich. Tierarten, die als lebensmittelliefernd eingeordnet sind, dürfen nicht mit Blutegeln behandelt werden.

Fazit

Die Blutegeltherapie kann eine gute Ergänzung oder Alternative bei der Behandlung verschiedener, klar diagnostizierter Erkrankungen bieten. Vor der Anwendung ist es wichtig, sich einen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen der Therapie zu verschaffen. Zudem ist es nicht unerheblich, sich vorher Kenntnisse über das Tier Blutegel, dessen Verhalten und sein optimales Handling zu erarbeiten, sonst endet der Therapieversuch mit dem Ergebnis: „Die Blutegel beißen nicht“ oder „die Blutegel taugen nichts.“

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