Wachstumsstrategien für Tierarztpraxen im Jahr 2025

Sabine Förderer, Tierärztin und Gründerin von VETiSearch.de.

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Sollte ich meine Tierarztpraxis erweitern? Diese Frage stellen sich viele Kolleg:innen - oftmals mehr als einmal im Laufe ihrer beruflichen Laufbahn. Die Gedanken sind bekannt: Werde ich glücklicher sein mit einer größeren Klinik, oder bringt das nur neue Herausforderungen? Werde ich wirtschaftlich besser dastehen oder lediglich mit höheren Fixkosten kämpfen? Und wie wirkt sich das auf mein Team, meine Kund:innen und natürlich auf meine tierischen Patienten aus?

Profil: Mein Name ist Sabine Förderer und bin seit 22 Jahren Tierärztin. Ich habe in Deutschland, Dänemark, London und Dubai gelebt, meine eigene Kleintierklinik geführt und in der Welt zahlreiche Tierarztpraxen auf unterschiedlichen Wachstumspfaden gesehen – manche mit durchschlagendem Erfolg, andere mit lehrreichen Rückschlägen. Heute leite ich VETiSearch.de – die kostenlose interaktive Pharma-App und Plattform, die speziell für Tierärzt:innen entwickelt wurde. In dieser Artikelreihe beleuchten wir zentrale Themen der unternehmerischen Entwicklung im tierärztlichen Kontext. Dieser erste Artikel widmet wir der Frage: Warum und wie wachsen Tierarztpraxen – und welche strategischen Entscheidungen sollten diesem Wachstum zugrunde liegen?

Die Vorteile des Wachstums: Mehr als nur ein größeres Team

Ein expandierender Praxisbetrieb ist kein Selbstzweck, sondern bietet konkrete Vorteile, wenn er zielgerichtet und reflektiert geplant wird.

Persönliche und fachliche Entwicklung des Teams. Wachstum schafft neue Rollen, neue Verantwortungsbereiche und macht es leichter, talentierte Mitarbeitende zu motivieren und langfristig zu binden. Die Aussicht auf Weiterentwicklung – fachlich wie organisatorisch – wirkt identifikationsstiftend und reduziert Fluktuation. Das wiederum senkt langfristig die betrieblichen Kosten. Eine kleine Allgemeinpraxis bietet oft nicht die Fallzahlen, die zur echten Spezialisierung notwendig sind. Durch gezielte Erweiterung – etwa in Richtung Kardiologie oder Orthopädie – können mittelfristig neue Leistungsbereiche erschlossen werden. Diese Spezialisierungen tragen nicht nur zur medizinischen Kompetenz bei, sondern sind auch wirtschaftlich interessant.

Ökonomische Effizienz durch Skaleneffekte. Mit zunehmender Patientenzahl verteilen sich Fixkosten wie Gehalt, Miete, Ausstattungs- und Verwaltungskosten effizienter. Das verbessert die Rentabilität und lässt sich in Tierarztpraxen klar nachweisen. Die Folge: Höhere Reinvestitionen, bessere Löhne, bessere und moderne Ausstattung. Spätestens ab 10 Mitarbeitenden wird eine strukturierte, systembasierte Führung notwendig. Standardisierte Prozesse, klare Rollen und noch wichtiger: eine zweite Führungsebene macht den Betrieb unabhängiger von der ständigen Anwesenheit der Praxisinhaber:innen. Dies steigert nicht nur die Lebensqualität der Leitung, sondern auch den Unternehmenswert beim späteren Verkauf.

Strategien für das Wachstum: Der Ansoff-Ansatz

Der Mathematiker und Managementpionier Igor Ansoff entwickelte in den 1950er Jahren ein strategisches Modell, das bis heute gilt: Die sogenannte Produkt-Markt-Matrix. Demnach existieren vier grundlegende Wachstumsstrategien:

1. Marktdurchdringung: Mehr Leistung für bestehende Kundschaft.

Ziel ist es, bestehende Klientel zu häufigeren oder umfassenderen Besuchen zu bewegen. Das kann durch Erinnerungsservices, Gesundheitspläne, Nachfassaktionen bei inaktiven Kund:innen oder kleine kostenlose Zusatzleistungen wie Zahnuntersuchungen erfolgen. Das „Cross-Selling“ von Produkten und Leistungen steigert sowohl Umsatz als auch Kundenbindung.

2. Marktentwicklung: Neue Kund:innen für bestehende Leistungen

Diese Strategie erschließt neue Zielgruppen, etwa durch regionale Werbung, digitale Sichtbarkeit online oder Kooperationen mit lokalen Unternehmen.

3. Produktentwicklung: Neue Leistungen für bestehende Kundschaft

Häufig der naheliegendste und einfachste Weg: Zusätzliche Services wie Physiotherapie, kostenlose Zahnuntersuchungen (die zu Folgebehandlungen in der Zahnabteilung führen können), Jungtieruntersuchungen sowie Seniorenchecks. Auch der Verkauf von Futter oder OTC-Produkten lässt sich problemlos in dieses Modell integrieren. Entscheidend ist dabei stets: Die neuen Angebote müssen einen echten Mehrwert für die Tierhalter:innen und ihre Tiere schaffen.

4. Diversifikation: Neue Leistungen für neue Zielgruppen

Ein Beispiel: Eine Allgemeinpraxis etabliert eine eigenständige kardiologische Einheit, um Überweisungen anderer Praxen anzunehmen. Diese Strategie ist anspruchsvoll, oft teuer und erfordert oft ein komplettes Neudenken des Praxismodells. Welche Wachstumsstrategie gewählt wird, liegt im Ermessen der einzelnen Praxis. Es wird jedoch empfohlen, sich zunächst auf ein Modell zu konzentrieren, da der gleichzeitige Einsatz mehrerer Modelle leicht zu Misserfolg führen kann – insbesondere aufgrund mangelnden Fokus.

Wachstum ist kein Selbstläufer. Es erfordert Reflexion, Planung und die Bereitschaft, alte Muster zu hinterfragen. Gleichzeitig bietet es große Chancen: für bessere Medizin, zufriedenere Teams und wirtschaftliche Stabilität."

Dr. Sabine Förderer

Hier sind einige Ideen, die als Inspiration dienen können, wenn Praxisinhaber:innen beginnen darüber nachzudenken, welche Wachstumsstrategie zur eigenen Praxis passt.

Marktdurchdringung

Ausweitung bestehender Kundenbeziehungen innerhalb bekannter Kundensegmente und etablierter Leistungen

  1. Automatisierte Kommunikationsflüsse: Einführung digitaler Erinnerungen via SMS/E-Mail für Routineimpfungen und Gesundheitschecks – geringe Komplexität und Kosten.
  2. Empfehlungsprogramm: Anreize für bestehende Kund:innen, neue Klienten zu werben.
  3. Treueprogramme: Einführung von Vorteilen wie z. B. kostenloses Krallen schneiden bei jedem 10. Besuch – einfach zu verwalten, hohe Kundenbindung.
  4. Kostenlose Zahnuntersuchungen: Kurze Screening-Konsultationen zur Erkennung eines weiterführenden Behandlungsbedarfs in der Zahnklinik – fördert Zusatzverkäufe und Prophylaxe.
  5. Digitale Sichtbarkeit und Konversion: Einsatz gezielter Google Ads-Kampagnen und Stärkung des Praxisprofils durch optimierte Bewertungen und Ratings auf Google und in sozialen Medien. Kostet Zeit.

Marktentwicklung

Bestehende Leistungen für neue geografische oder demografische Zielgruppen.

  1. Kooperationen mit externen Fachpersonen: Partnerschaften mit Hundetrainer:innen, Züchter:innen und Groomern für gegenseitige Empfehlungen – praxisnah und effektiver Netzwerkaufbau.
  2. Mobile Praxis: Gesundheitschecks, Impfungen und Chippen direkt bei Kund:innen zu Hause – besonders attraktiv für Kund:innen ohne Transportmöglichkeit.
  3. Geografisch zielgerichtete Werbung: Einsatz sozialer Medien und digitaler Kampagnen zur Ansprache potenzieller Kund:innen im nahen Umkreis.
  4. Externe Laborunterstützung: Analyse von Blut- und Urinproben für kleinere Praxen ohne eigenes Labor – schafft Kooperationen und fördert künftige Überweisungen.
  5. Satellitenkliniken mit Überweisungsfunktion: Kleinere Einheiten mit Basisleistungen, die komplexe Fälle an Spezialistenpraxen weiterleiten – kapitalintensiv, aber skalierbar.

Produktentwicklung

Entwicklung und Einführung neuer Leistungen für bestehende Kundensegmente.

  1. Telefon- und Videokonsultationen: Für Nachsorgen und unkomplizierte Anliegen. Integration über Zahlungslösungen, die speziell für Tierärzt:innen entwickelt wurden, z.B. VETiPay (kommt bald bei vetisearch.de) – geringe Komplexität und hat geringe Kosten.
  2. Abend- und Samstagssprechstunden: Mehr Flexibilität für Tierhalter, die außerhalb der regulären Arbeitszeiten einen Praxisbesuch ermöglichen – höhere Kundenzufriedenheit und bessere Erreichbarkeit - erfordert flexible Einsatzplanung"
  3. Gesundheitsabos: Jahrespakete mit regelmäßigen Checks, Impfungen und Rabatte auf ausgewählte Behandlungen – planbare Einnahmen und stärkere Kundenbindung.
  4. Senioren-Check-ups: Gesundheitspakete inkl. Hämatologie, klinischer Chemie und Urinuntersuchung – gezielt für ältere Tiere – wirtschaftlich attraktiv und fachlich sinnvoll.
  5. Erweiterte Inhouse-Diagnostik: Investition in Geräte für bildgebende Diagnostik, Blut- und Urinanalysen – ressourcenintensiv, aber langfristig differenzierend und rentabel.

Diversifikation

Neue Leistungen für neue Marktsegmente oder Bedürfnisse zu entwickeln, ist oft mit erheblichen Kosten und Risiko verbunden und erfordert in der Regel, dass man bei der Produktentwicklung völlig neu ansetzt.

  1. Verkauf von Gesundheitsabonnements an neue Kundengruppen: Kooperationen mit Versicherungsunternehmen oder Verkauf von Gesundheitsabonnements – juristisch und administrativ anspruchsvoll, aber skalierbar.
  2. Erweiterung fachlicher Kompetenz in der Praxis: Einführung spezialisierter Leistungen wie Veterinärkardiologie, Rehabilitationsmedizin und Physiotherapie, Chiropraktik und medizinische Massage, Veterinärdermatologie. Erfordert Investitionen in Platz, Ausrüstung und/oder die Rekrutierung zertifizierter Fachkräfte, bietet jedoch Mehrwert und ermöglicht überweisungsbasierte Umsätze.

Fazit: Der Mut zur Strategie

Wachstum ist kein Selbstläufer. Es erfordert Reflexion, Planung und die Bereitschaft, alte Muster zu hinterfragen. Gleichzeitig bietet es große Chancen: für bessere Medizin, zufriedenere Teams und wirtschaftliche Stabilität. Als Tierärztin, Unternehmerin und Beobachterin internationaler Praxismärkte kann ich aus Erfahrung sagen: Diejenigen Praxen, die strategisch wachsen, sind oft nicht nur erfolgreicher – sie arbeiten auch entspannter, innovativer und nachhaltiger.

Business Model Canvas - Praxisentwicklung mit System

Ein Blick nach vorn: In der nächsten Ausgabe dieser Artikelserie werden wir uns mit einem strategischen Werkzeug beschäftigen, das sich in vielen erfolgreichen Tierarztpraxen bewährt hat: dem Business Model Canvas des Schweizers Alexander Osterwalder. Dieses Modell hilft dabei, das eigene Geschäftsmodell strukturiert zu analysieren, Schwächen zu erkennen und Chancen gezielt zu nutzen. Es eignet sich sowohl für bestehende Praxen, die sich neu aufstellen wollen, als auch für Neugründungen. In diesem Sinne: Bleiben Sie gespannt auf den nächsten Teil unserer Serie zur strategischen Praxisentwicklung!