Dr. Barbara Esteve Ratsch: "Physikalische Medizin im Team – ein Konzept mit Zukunft!"

Bereits seit ihrer Tätigkeit in der Intenisvstation der Kleintierchirurgie an der LMU in München hat Dr. Barbara Esteve Ratsch Interesse für das Gebiet der Physikalischen Medizin entwickelt. Seitdem fokussiert sie sich ausschließlich auf dieses tiermedizinische Spezialgebiet, welches damals weltweit noch in den Kinderschuhen steckte. "Selbst mit zu dieser Zeit noch minimalen Möglichkeiten konnte ich eine deutliche Verbesserung der klinischen Situation vieler Patienten erreichen", so Esteve Ratsch. Seither hat sie sowohl im universitären Umfeld als auch in der Privatpraxis kontinuierlich Erfahrung sammeln können und sich auf diesem Gebiet fokussiert weitergebildet.

Welche Weiterbildung war denn Ihr großer Durchbruch?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Alle meine akademischen Fort- und Weiterbildungen sowohl in der Human- und der Tiermedizin in den Fachgebieten Akupunktur, Osteopathie bzw. Physikalische Medizin und Rehabilitation, haben mich gefördert. Meine ersten Erfahrungen mi der Physikalischen Medizin im Teamapproach zwischen spezialisierten Tierärzt:innen und TFA erlebte ich vor vielen Jahren in meiner Heimat Madrid, wo dieses Fachgebiet beruflich geschützt ist. Seitdem bin ich bemüht, dieses Leistungspotential auch Tierärztinnen in anderen Ländern zu vermitteln.

Den eigentlichen Durchbruch habe ich allerdings auf dem „International Association of Veterinary Rehabilitation and Physical Therapy“ (IAVRPT) Kongress in Uppsala im Jahre 2016 erlebt. Mein jahrelanger Wunsch, die akademische Weiterbildung zum „Certified Canine Rehabiliation Practitioner“ (CCRP) zu starten, wurde dort nach einem sehr intensiven Gespräch mit PD Dr. Barbara Bockstahler endlich Wirklichkeit. Sie eröffnete mir die vielen Perspektiven, die sich Tierärzt:innen mit der Weiterbildung zum CCRP sowohl im Thema Diagnostik als auch in Therapien eröffnen würden. Ich habe mich umgehend für den Universitätslehrgang in Wien eingeschrieben und habe diesen Schritt in diesem Fachgebiet nie bereut.

Welche Wende nahm Ihre Beschäftigung denn damit?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Mit dem Wissen, das ich in diesem Lehrgang erlangt habe, konnte ich die wissenschaftlichen Hintergründe der physikalisch medizinischen Diagnostik sowie von innovativ entwickelten Modalitäten verstehen und smart zusammensetzen. Ich wurde, wie Prof. Darryl Millis sagt, von der „Küchenhilfe“ zum „Chefkoch“. Das Handwerkszeug sind das Wissen und die praktische Umsetzung, die ich situationsgerecht für jeden Patienten bis ins Detail jedesmal anpassen kann. Ich brauche also keine „Kochrezepte“, ich kreiere die multimodale Therapie individuell in Abhängigkeit der Diagnose, des Heilverlaufs, von vorliegenden Komorbiditäten und der vorgelegten Zielgebung. Seit mir diese Fähigkeit beigebracht wurde, verbesserten sich die Ergebnisse in einem Maß, das ich so niemals erwartet hätte.

Sie arbeiten inzwischen auch als Dozentin sowohl für die VAHL als auch auf Kongressen und anderen Seminaren.

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Ja, meine Begegnung mit PD Dr. Barbara Bockstahler und Dr. Beate Egner blieb nicht ohne berufliche Folgen. Zunächst verhalf ich in Deutschland zum Aufbau der Abteilung für Physikalische Therapie in der Chirurgischen und Gynäkologischen Kleintierklinik der LMU unter Prof. Dr. Meyer Lindenberg und Prof. Dr. Lauer. Später baute ich dann das Zentrum für Tiermobilität (ZTM) in der medizinischen Kleintierklinik unter Prof. Dr. Hartmann und Prof. Dr. Fischer auf. Meine Erfahrungen habe ich dann auf internationalen Symposien und Weiterbildungen an Tierärzt:innen und TFA weitegeben dürfen. Seitdem bin ich als Dozentin (Faculty Member) für die Veterinary Academy of Higher Learning (VAHL) tätig.

Ich bin der Überzeugung, dass wir Tierärzt:innen in erster Linie als Physikalmediziner:innen tätig sind und idealerweise mit einer zur Physikaltherapeut:in weitergebildeten TFA zusammenarbeiten sollten. Die Physikalische Medizin ist weitaus mehr als nur eine Physiotherapie, sie umfasst eine fundierte und komplexe Diagnose und eine darauf abgestimmte, umfassende Therapie."

Dr. Barbara Esteve Ratsch, Certified Canine Rehabilitation Practitioner (CCRP)

Sie sind deutsch-spanischer Abstammung und leben jetzt in Norwegen. Was hat sie dorthin verschlagen?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: (lacht) Ich habe eigentlich mehr dänisches als deutsches Blut, entsprechend sollte ich genetisch etwas an die Kälte angepasst sein. Meine spanische Familie schmunzelt nach meinen etlichen Umzügen und glaubt mich in Zukunft mal am Nordpol besuchen zu müssen. Aber mal im Ernst: meine multikulturelle Familie lebt in Kristiansand, und da es leider doch keine Option gab, dass meine Familie nach Deutschland zurückzieht, bin ich schweren Herzens von der München nach Norwegen gegangen. Bereut habe ich den Schritt nicht, da Stolpersteine für mich immer eine positive Herausforderung bedeutet haben. Ich hatte das Glück, dass Evidensia zu der Zeit eine große Überweisungsklinik in Hamresanden baute. Ich habe kurzerhand eine Initiativbewerbung geschickt und nach einem Vorstellungsgespräch samt Vortrag zum Thema „Physikalische Medizin“ wurde mir eine Stelle als „Physiotherapeutin“ angeboten.

... Physiotherapeutin?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Nun, die Bezeichnung des tiermedizinischen Physiotherapeut:in ist in vielen Ländern, so auch in Deutschland und Norwegen, nicht geschützt und wird häufig von Laien zur Bezeichnung dessen Therapie benutzt. Ich möchte mich schon deutlich von nicht fachlich fundiert arbeitenden Laien abheben. Auch hat der Fachverlag „Elsevier“ im November 2021 schriftlich darauf hingewiesen, dass „Physiotherapie“ ein Beruf und keine „Therapiebezeichnung“ ist. Die „Physikalische Medizin“ ist dennoch weitaus mehr als eine Therapie und grenzt sich von der „Physiotherapie“ beruflich ab. Sie umfasst eine fundierte und komplexe Diagnose und eine darauf abgestimmte, umfassende multimodale Therapie. Diese wird teilweise durch Physikalmediziner:innen umgesetzt, vieles kann aber auch im engen Teamapproach durch die Physikaltherapeutin, bzw. von der spezialisierten TFA übernommen werden. In enger Zusammenarbeit entstehen so maßgeschneiderte Behandlungskonzepte, die eine schnelle und umfassende Optimierung der jeweiligen Kasuistik ermöglichen. Das Potential der „Physikalischen Medizin“ im Schmerzmanagement wird leider noch in der Tiermedizin unterschätzt und unzureichend eingesetzt. Aber inzwischen wird auch in meinem Arbeitsplatz bei Evidensia die von mir geleitete Abteilung als „Physikalische Medizin und Rehabilitation“ und nicht mehr als „Physiotherapie“ bezeichnet.

Und wie hat sich Ihre Tätigkeit in der Evidensia-Klinik entwickelt?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Ich musste tatsächlich erst harte Aufklärungsarbeit betreiben, um mein Potential in der Diagnostik und im Einsatz von noch wenig bekannten Indikationen zu beweisen. Ein großer Vorteil in dieser Klinik ist aber das innovative Team, u.a. mit Kuba Letek, einem sehr aufgeschlossenen orthopädischen Chirurgen, und Dr. Krisztina Kungl, einer hervorragenden Senior-Internistin. Nachdem mich Kuba Letek zunächst sporadisch schon vor einer geplanten orthopädischen OP in die Befundung der Patienten integriert hat, erkannte dieser schnell, dass wir im Teamapproach gemeinsam die Diagnose verfeinerten und den Therapieplan viel konkreter aufstellen können, was insbesondere in der präventiven Medizin von großem Nutzen ist und von Tierhalter:innen auch zunehmend gefordert wird. Schnell schlug er vor, mich generell als Erstbefunderin bei allen chronischen Lahmheiten einzusetzen, um danach den chirurgisch orthopädischen Aspekt zu beleuchten und um schließlich die gesamte Betreuung des Patienten aufeinander abzustimmen.

Wie muss man sich das vorstellen?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Nach einem vorangegangenen Anamensebogen samt klinischem Krankenbericht befunde ich zuerst nach einer abgekürzten klinischen Untersuchung sowohl die Körperhaltung als auch gezielt verschiedene Bewegungsabläufe. Ich evaluiere standardisiert die Muskelumfänge, messe goniometrisch den Bewegungsumfang in den Gelenken und bewerte dessen Endgefühle. Auch führe ich standardisiert eine physikalisch medizinische Palpationsuntersuchung durch, die sich etwas von der klassischen orthopädischen bzw. neurologischen Untersuchung unterscheidet, diese aber keineswegs ersetzt, sondern vielmehr ergänzt. Der Clou daran ist die Interpretation dieser umfassenden Befundung im Zusammenhang mit dem klinischen Gesamtbild. Es ergeben sich dann nicht selten weitere überraschende Zusammenhänge, z.B. zu subklinisch vorliegenden internistischen Erkrankungen oder anderen, von klinischer Relevanz vorliegenden orthopädischen, neurologischen Befunden. Man kann meine Nutzung in der Diagnostik vielleicht am besten mit der Arbeit einer Dermatolog:in vergleichen. Auch sie muss ein breites interdisziplinäres Fachwissen kennen und vereinen, um die eigentliche Ursache einer Hautveränderung richtig zu deuten, die notwendigen diagnostischen Maßnahmen zeitnah einzuleiten und dann zielgerecht die interdisziplinäre Behandlung zu planen. Und das ist nicht nur beim Sport- und Leistungshund entscheidend, sondern auch beim Familientier, das immer mehr präventiv vorgestellt wird.

Wie wird das kommuniziert und wie nehmen es die Tierbesitzer:innen an?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Der Chirurg Kuba Letek und ich besprechen gemeinsam die vorliegende Diagnose mit den Tierhalter:innen. Wir hatten bisher nie Probleme, den Gesamtumfang einer geplanten Therapie erfolgreich zu kommunizieren. Manchmal beginnt strategisch die Therapie tatsächlich mit mir in der Physikalischen Medizin, um beispielsweise Schmerz multimodal zu lindern und um nachgewiesene muskuläre Dysbalancen auszugleichen, bevor eine OP dann im Anschluss erfolgt. Dies erleichtert auch die Einbindung der Tierhalter:innen in das Heimprogramm. Die Besitzer:innen können beispielsweise aktiv in der multimodalen Analgesie werden, indem sie sorgfältig noch in der Vorplanung eingewiesen wird, wie korrekt Kältetherapie unmittelbar post OP lokal durchgeführt werden kann. Am effektivsten und sichersten erfolgt dies durch Entzug von Wärme aus dem biologischen Gewebe durch Konduktion bei einem niedrigen, jedoch homogen und lang anhaltenden Temperaturgradienten. Sehr gut bewährt haben sich dabei die Calinobio®-Produkte zur oberflächlichen Thermotherapie. Durch den niedrigen Temperaturgradienten verbessert sich deutlich die Mitarbeit des Tieres zu Hause, und die Gefahr von Kaltbrand („cold burn“) kann so gut wie ausgeschlossen werden. Die verschriebene initiale Kältetherapie zeigt bei korrekter Anwendung schnell klinische Erfolge. Somit erfahren die Tierhalter:innen ein positives Erlebnis in einem stressreichen Zustand, der eine Operation seines geliebten Vierbeiners zweifelsohne bedeutet. Die Compliance der Tierhalter:innen wird aber auch durch die regelmäßigen physikalisch medizinischen Reevaluierungen und somit nachweislich gemessenen Therapieerfolge verbessert.

Was sagt die Klinikleitung dazu?

Dr. Barbara Esteve Ratsch: Inzwischen hat nicht nur die Klinikleitung aufgrund der Ergebnisse und der Anerkennung der Tierhalter:innen die Vorteile dieser proaktiven Zusammenarbeit erkannt. Hier in Norwegen gibt es leider so gut wie keine Tierärzt:innen und TFA, die in dieser Spezialisierung aktiv sind. Dies liegt aber eventuell auch an der mangelhaften Deckung seitens der Tierversicherungen dieser tiermedizinischen Leistung. Diese decken zwar meine phyiskalisch medizinische Diagnostik ab, die Therapie selbst wird aber oft noch bewusst mit einem getrennten, deutlich geringeren jährlichen Budget gedeckt - oder eben nicht. Aber der Verlauf dieses Jahres lässt mich hoffen, dass wir damit den Start zu einer künftig intensiven und für die Patienten optimierten Herangehensweise hier in Norwegen begründet haben.

Vielen Dank für das interessante Gespräch. Vi ønsker deg en vellykket tid i Norge.