"Lasst uns doch mal machen!“ Tierarztpraxis-Teams treiben digitale Zukunft voran!
Unser eigener Anspruch, Aufgaben bestmöglich zu erledigen und der ständige Zeitdruck zählen zu den größten Stressfaktoren im Joballtag. Das trifft sicher auch auf Mitarbeitende in tierärztlichen Praxen zu. Und jetzt soll bei all dem Stress auch noch die Digitalisierung vorangetrieben werden. Dabei sollen doch eigentlich erst einmal die Patienten und deren Besitzer:innen im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen. Wird jetzt unser „Hamsterrad“ noch einmal beschleunigt? Oder bieten sich vielmehr Chancen zur Verbesserung unserer Arbeitssituation? Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir uns zunächst einmal die folgenden Fragen stellen:
Was bedeutet Digitalisierung bzw. künstliche Intelligenz für tierärztliche Praxen?
An dieser Stelle möchte ich nur mit einer einfachen Definition antworten, die keineswegs allumfassend sein kann, aber bereits Arbeitsansätze und Erleichterungen erahnen lässt:
Digitalisierung und künstliche Intelligenz für tierärztliche Praxen könnte bedeuten:
- Das Potenzial von Computern und Internet werden in Tierarztpraxen noch besser genutzt.
- Patientendaten werden generell digital gespeichert und DSGVO-konform genutzt.
- Moderne Technologien helfen bei Diagnostik, Prophylaxe und Therapie. Die dort erhobenen Daten werden erfasst, anonymisiert verknüpft und ausgewertet.
- Künstliche Intelligenz wird zukünftig zur Unterstützung von Diagnostik und im Tiergesundheits-Management eingesetzt.
- Die Kommunikation mit Tierbesitzer:innen bleibt analog und persönlich, wird aber durch digitale Konzepte und entsprechende Medien gezielt ergänzt.
- Mit den genannten Beispielen eröffnet sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten, die tierärztlichen Aufgaben schneller, einfacher und z.T. auch präziser zu gestalten. Patienten und Tierbesitzer:innen können umfassender und nachhaltiger betreut und dadurch besser an die Praxen gebunden werden.
- Dazu gehört aber auch ein ausgefeiltes Risikomanagement, dass Datenschutz, potenzielle Cyberattacken und weitere IT-/KI-Risiken im Auge behält.
Welche Praxis-Aufgaben sind derzeit am wichtigsten und bei welchen dieser können wir uns schnelle und praktikable, digitale Lösungsansätze vorstellen?
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich zunächst beispielhaft aus einer nicht repräsentativen Stichprobe von 18 befragten TFAs, TPMs und Tierärzt:innen eine Einordnung nach Bedeutung und möglichem Nutzen von digitalen Maßnahmen vornehmen (Abb. 1 & 2). Aus dieser Stichprobe wurde deutlich, dass zunächst einmal der effiziente Einsatz der Teammitglieder in den Praxen im Vordergrund steht. Während das Praxismarketing zunächst als etwas weniger wichtig angesehen wird, rückt es in der möglichen Nutzen-Erzeugung durch digitale Instrumente etwas nach oben.
Diese Beispiel-Erhebungen können je nach Praxis sehr unterschiedlich aussehen. Die Fragen – gestützt durch vorgegebene Antworten oder offen gestellt – sind geeignet, den Teamdialog zu starten. Denn die Mitarbeitenden haben im Normalfall ein sehr gutes Einschätzungs-Vermögen, „wo der Schuh drückt“ und an welcher Stelle angesetzt werden sollte. Das notwendige technische Knowhow kann man sich an verschiedenen Stellen aneignen.
Das bedeutet nicht, dass ich die Bedeutung der viel beschworenen „Future Skills“ und „Digital Competencies“ negiere, aber an erster Stelle kommt es auf gegenseitiges Vertrauen im Team und zur Führung und das Engagement ALLER an.
Tierärztliche Fachangestellte & Tierärztliche Praxismanager können das!
Während eines Workshops mit TFAs und TPMs im Juni 2024 habe ich gelernt: Die Kompetenzen und die Motivation und Leidenschaft vieler Praxis-Mitarbeitendenden sind so stark, dass digitale Veränderungsprozesse erfolgversprechend in Angriff genommen werden können. In einer Übung hatten vier Teams à 5 Personen 45 Minuten Zeit, digitale Projekte für Tierarztpraxen (mit einem entsprechenden Budget) zu kreieren. Im ersten Jahr sollte entwickelt & implementiert werden, im zweiten Jahr sollten die Investitionen – soweit möglich – amortisiert werden. Die vorgestellten Ideen (mit FlipChart oder sogar mittels CoPilot-unterstützter PowerPoint-Präsentation) waren meines Erachtens überwältigend.
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, diese Workshop-Ergebnisse weiter auszuführen. Aber was diese stichwortartige Beschreibung deutlich macht, ist die hohe Kreativität, gepaart mit Realitätssinn und unternehmerischem Geist, der in den Tierarztpraxen schlummert.
Mit gezielten, digitalen Veränderungsprozessen können viele derzeitige Herausforderungen nachhaltig gelöst werden.
Nichts geht ohne ein unternehmerisches Investment!
Aber was muss passieren, damit diese Potenziale wirksam und nachhaltig genutzt werden können? Ganz klare Antwort: Das geht nicht ohne ein unternehmerisches Investment! Und das muss am besten auch im Team erörtert werden. Und dann braucht es die volle finanzielle und ideelle Unterstützung der Führung (Commitment!). Doch für die Erfolgsaussichten ist noch wichtiger, dass die Chef:innen die Kompetenzen ihrer Mitarbeitenden genau kennen und auf sie vertrauen. Das bedeutet:
1. Die vorhandenen fachlichen und persönlichen Kompetenzen aller Teammitglieder müssen konsequent gefordert und gefördert (sprich weiterentwickelt) werden. Dabei stellt sich auch die Frage nach der Veränderungsfähigkeit (Können) und der Veränderungsbereitschaft (Wollen) aller Beteiligten. Bei der Veränderungsfähigkeit geht es einerseits um die Persönlichkeit des Einzelnen (ist die Person z.B. eher optimistisch und zuversichtlich oder eher pessimistisch und skeptisch, was zukünftige Veränderungen betrifft) und andererseits um die bisher erlernten Fähigkeiten. Bei der Veränderungsbereitschaft geht es um die Themen Engagement, Mitarbeiterbindung oder schlicht Motivation. Wenn das Gehalt bereits angemessen ist, geht es nicht zwingend um mehr finanzielle Anreize, sondern vielmehr um individuelle Wertschätzung.
2. Klare Entscheidungs- und Handlungskompetenzen müssen übertragen (delegiert) werden. Der erste Punkt bedeutet wieder Investment, und zwar eines, das sich z.B. durch Mitarbeiterbindung fast immer voll auszahlt. Der zweite Punkt ist vermutlich schwieriger, weil ich als Chef mit der Delegation nicht mehr zu 100 % das Ergebnis erziele, das ich mir selbst vorstelle. Denn mit der Delegation muss ich auch Freiheitsgrade abgeben, ohne die Kontrolle über das übergeordnete Ziel zu verlieren.
Welche Chancen zur Verbesserung der Arbeitssituation sind realistisch?
Um ehrlich zu sein, muss sich zunächst jeder erst einmal Freiräume schaffen, um wirksam an den digitalen Möglichkeiten zu arbeiten. D.h. es sind definitiv neue Prioritäten zu setzen, ohne das Team zu überlasten und andererseits auch keine Service-Verschlechterung für die Kunden zu erzeugen. Erst wenn alle sich dies bewusst gemacht haben und gemeinsam „Zeitreserven“ identifiziert haben, kann der Prozess beginnen.
Das Interessante an dieser Suche nach freien Ressourcen ist, dass dadurch bereits viel Kreativität freigesetzt wird und bisherige „Zeitfresser“ identifiziert und ggf. eliminiert werden können. Und wenn die Schlüssel-Arbeitsprozesse analog effizienter gestaltet worden sind, ergeben sich unwillkürlich Überlegungen, diese durch digitale Schritte zu ersetzen oder komplett neu zu gestalten.
Ich weiß, das klingt an dieser Stelle noch sehr theoretisch und abstrakt, aber meine Erfahrung in Digitalisierungs-Prozessen über mehr als 25 Jahren hat stets gezeigt, dass vertrauensvoll zusammenarbeitende Teams eine unglaubliche Dynamik entwickeln können, sofern Commitment und Wertschätzung der Führung konsequent spürbar ist.
So könnte die dazu gehörige „Story“ der Führungskraft ausschauen: "Stellen Sie sich vor, es ist ein typischer Montagmorgen in der Kleintierpraxis Analogon. Das Telefon klingelt ununterbrochen, Patientenakten müssen mühsam aus den Karteikästen geholt werden, und die Wartezimmer sind überfüllt. Alle Teammitglieder sind gestresst und haben kaum Zeit für die eigentliche Behandlung der Tiere, geschweige denn für die Beratung der Tierbesitzer:innen.
Nun lassen Sie uns ein Jahr in die Zukunft springen. Die Praxis
hat eine digitale Transformation eingeleitet. Termine werden online
mittlerweile gebucht, Patientenakten sind mit wenigen Klicks verfügbar,
und ein digitales Wartezimmermanagement sorgt für nahezu reibungslose
Abläufe. Die Team-Anforderungen sind durch die steigende Nachfrage
weitergewachsen, aber alle haben nun mehr Zeit für ihre tierischen
Patienten und deren Besitzer:innen. Die Arbeit macht wieder mehr Freude,
und die Kund:innen sind begeistert von dem verbesserten Service."
Take Home Messages
Mit gezielten, digitalen Veränderungsprozessen können viele derzeitige Herausforderungen nachhaltig gelöst werden. Der Schlüssel zu den Lösungen liegt in dem Engagement der Mitarbeitenden.
Literatur
- Christensen, Lisa; Gittleson, Jake; Smith, Matthew (April 2021): Intentional learning in
- practice: A 3x3x3 approach, McKinsey & Company
- Rump, Jutta (Januar 2022) Organisationen unter Druck ‐ Zu wenig Zeit, Geld, Personal – wie die
- Pandemie den Kampf um knappe Ressourcen beeinflusst ‐ Der Versuch einer Explikation und
- Interpretation der Ergebnisse des HR Reports 2022, Download am 4.11.2022: https://www.ibeludwigshafen.de/wp‐content/uploads/2022/05/HR‐Report‐2022‐Interpretation‐FINAL.pdf
- Sibisi, Sinazo; Kappers, Gys (August 2022): Wie sich Onboarding auszahlt, Harvard Business manager
- August 2022, S.82‐85; ursprünglich im HBR erschienen: https://hbr.org/2022/04/onboarding‐canmake‐or‐break‐a‐new‐hires‐experience
- Schein, Edgar H.; Schein, Peter (2019): Humble leadership. Erfolgreich Führen mit Beziehung, Offenheit und Vertrauen. Gevelsberg: EHP (Führungskompetenzen)